
Schäfer glaubt fest daran, dass er keine Bruchlandung erleben muss.
(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)
Silber bei der Weltmeisterschaft - und doch ganz viel Ärger. Für Léon Schäfer geht es um die Zukunft seines Sports. Bei den Paralympics 2028 soll kein Platz sein für den Prothesen-Weitspringer. Das wollen der Deutsche und seine Konkurrenten nach dem "Bombenwettkampf" nicht hinnehmen.
Ein "Bombenwettkampf", der Beste, den er je hatte. Léon Schäfer haut bei der Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten in Neu-Delhi nicht nur einen raus, sondern legt gleich eine ganze Serie hin. Der Weitspringer, dessen rechter Unterschenkel samt Knie amputiert ist, verbessert seine Bestleistung zweimal. 7,45 Meter stehen schließlich in der Ergebnisliste, damit springt er 20 Zentimeter weiter als jemals zuvor. "Ich bin sehr zufrieden", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Und doch schwingen da gleich mehrere Aber mit.
Hätte der 28-Jährige doch nur den letzten Versuch richtig aufs Brett gesetzt. "Dann wäre es ziemlich sicher auch Gold geworden", sagt Schäfer. So muss sich der Titelverteidiger mit Silber zufriedengeben, der Paralympics-Sieger von Paris und Weltrekordler Joel de Jong aus den Niederlanden ist mit 7,57 Meter noch weiter gesprungen. Für die Zukunft ist Schäfer sich sicher: "Ich weiß, ich kann noch deutlich weiter."
Es ist eine Kampfansage - aber für eine ungewisse Zukunft. Denn Schäfer und de Jong werden - man kann es so drastisch sagen - ihrer Berufsgrundlage beraubt. Zwar stehen im kommenden Jahr Europameisterschaften auf dem Programm. Doch das große Ziel, auf das alle hinarbeiten, die Paralympics 2028, soll ohne sie stattfinden. Der Weitsprung ist für die Startklasse T63 von Schäfer und Co. gestrichen. Welt- und Europameisterschaften trösten nur wenig, wenn die Athleten auf der größten Bühne des Sports nicht erwünscht sind. "Das ist einfach vorne und hinten nicht korrekt, was da läuft", ärgert sich Schäfer.
Weitsprung ohne Vorwarnung gestrichen
Es ist nicht nur die Tatsache an sich, sondern vor allem die Art und Weise. Bei den Paralympics werden öfter mal Disziplinen gestrichen, andere kommen hinzu. Für die kommenden Spiele in Los Angeles hat es so auch die Kleinwüchsigen getroffen, bei denen der Speerwurf aus dem Programm genommen wurde. Für sie bleibt nur das Kugelstoßen. Der Sport für Menschen mit körperlichen Behinderungen ist überaus vielfältig. Das zeigen schon die verschiedenen Klassen, in denen die Athleten eingruppiert werden. Schäfer etwa tritt in einem anderen Weitsprung-Wettbewerb an als sein Teamkollege Markus Rehm, der ebenfalls mit Oberschenkelprothese unterwegs ist. Der deutsche Vorzeigeathlet gewinnt zum achten Mal in Serie WM-Gold in der Klasse T64. Rehm hat anders als Schäfer sein Kniegelenk noch. Der Bewegungsablauf ist anders, was die Klassifizierung nötig macht. Die Sprünge von Schäfer sind kürzer.
Die Mitteilung, dass der Weitsprung gestrichen ist, trifft Schäfer und seine Konkurrenten völlig unvermittelt. Nie stand es zur Debatte, für den Leverkusener ist es "unerklärlich". Der Para-Leichtathletik-Weltverband (WPA) und das Internationale Paralympische Komitee (IPC) machen nicht transparent, nach welchen Kriterien vorgegangen wird.
Fehlende Entwicklung kann nicht der Grund sein. 2019 ist Schäfer der Weltbeste mit 6,99 Meter. Ein Jahr darauf übertrifft er als erster Athlet überhaupt mit 7,24 Metern die Sieben-Meter-Marke, im vergangenen Jahr schraubt de Jong den Weltrekord hoch auf 7,68 Meter. Es ist auch nicht so, dass das Niveau niedrig ist. Der Bronzemedaillengewinner der vergangenen Paralympics in Paris 2024, Noah Mbuyamba aus den Niederlanden, verpasst bei der WM um einen Zentimeter den Endkampf der besten Acht.
Führt der Weg vors Gericht?
"Ich bin davon überzeugt, dass wir diese Entscheidung rückgängig machen können", zeigt sich Schäfer kämpferisch. In Neu-Delhi ist er nicht nur als Athlet, sondern auch als Diplomat unterwegs. Er und seine Mitstreiter haben ein Gespräch mit dem WPA-Präsidenten, sie schreiben Mails, sie argumentieren, scharen Unterstützer um sich. Es geht um ihre eigene Zukunft, aber auch um eine Perspektive für den Nachwuchs. Schäfer sagt: "Ich bin ziemlich sicher, dass wir vors Gericht ziehen und gegen diese Entscheidung klagen müssen."
Es ist ein Kampf, der Kraft und Zeit kostet. Und das alles neben dem Alltag als Spitzensportler. Ein Leben, in das sich Schäfer voll hineingestürzt hat. Als er mit zwölf Jahren die Diagnose Knochenkrebs erhielt und mit 13 die Amputation folgte, hatte er nicht an eine solche Entwicklung gedacht. "Ich wollte einfach wieder laufen", sagt er. Schnell kommen die Erfolge, auch international. Das Talent ist groß. Nach dem Abitur 2016 beschließt er: Der Sport soll fortan sein Ding sein. Umzug aus der Heimat Bremen in die deutsche Para-Leichtathletik-Hochburg Leverkusen.
Es zahlt sich aus: Keine Weltmeisterschaft, von der er ohne Medaille heimkehrt. Bei den Paralympics in Tokio 2021 gewinnt er Silber und Bronze. In Paris drei Jahre später aber platzen Träume. De Jong ist plötzlich der Mann der Stunde, pulverisiert kurz vor dem Höhepunkt Schäfers Weltrekord - und löst damit einen Strudel beim Deutschen aus. Verunsicherung, Unruhe, schlechtes Gefühl: Schäfer verliert den Faden.
De Jong hatte etwas an der Sohle seiner Prothese verändert und große Wirkung erzielt. "Das hat mich so sehr verunsichert", sagt Schäfer, "dass ich dachte, ich muss nachziehen und diese Veränderung auch machen." Doch die Wirkung bleibt aus - stattdessen: "Ich hatte nicht mehr genug Zeit, mich an diese Veränderung zu gewöhnen, es kam keine Konstanz in meine Sprünge. Das Gefühl hat gefehlt." Statt mit Gold, Silber oder Bronze aus Paris heimzukehren, bleibt ihm nur der vierte Platz. "Ich hätte nichts ändern sollen", sagt Schäfer rückblickend.
Ruhe und Gefühl ganz wichtig für Schäfer
Was aber schlimmer wiegt als die verpasste Medaille, ist das Gefühl, das anhält. "Es hat mir meine Ruhe, die mich auszeichnet, einfach genommen." Schäfer braucht Zeit, das Geschehene zu verarbeiten. Lange Zeit. Mit dem Training startet er erst vier Monate später wieder in Südafrika, wo er viel Zeit verbringt. "Erst da habe ich wirklich meine Ruhe wiedergefunden, nachdem ich Paris da dann noch mal anders verstehen konnte." Was die Zeit ihm ebenfalls lehrt: "Im Endeffekt habe ich für mich erkannt, dass es gar nicht so extrem wichtig für mich ist, was genau da für eine Sohle unter der Prothese ist." Seit Paris gibt es nur kleine Veränderungen, er springt nun mit einer härteren Feder. In Neu-Delhi ist das Gefühl wieder super, Schäfer belohnt sich mit Silber.
Nur ein paar Tage später hat Schäfer wieder so ein Gefühl. Diesmal ist es ein mieses. Er steht auf der Tartanbahn, vor ihm liegt sein Vorlauf über 100 Meter. Seine zweite Top-Disziplin. Die, die ihm den Start bei den Paralympics erhalten würde, sollte es beim Ausschluss des Weitsprungs bleiben. Schäfer fühlt Luft. An einer Stelle, an der keine hingehört, nämlich zwischen seinem Stumpf und dem Liner, einer Art Socke, über die die Prothese gestülpt wird. Den Gedanken, die Prothese nochmal auszuziehen, verwirft er.
Er kennt das Problem aus den vergangenen Wochen, denkt, er kommt damit zurecht, würde es vielleicht nur verschlimmbessern. "Dann bin ich aber relativ verhalten aus dem Startblock raus. Es war ein Sicherheitsstart, um ins Laufen zu kommen", sagt Schäfer. Steigern auf Topgeschwindigkeit, am Ende an allen vorbeisprinten - so ist der Plan. "Genau dann habe ich aber gemerkt, es wird mehr Luft und von Schritt zu Schritt ist mehr Unsicherheit reingekommen." Die Prothese rutscht langsam, aber stetig vom Stumpf, Schäfer verliert die Balance und stürzt. Das war's, keine Qualifikation fürs Finale. Keine zweite Medaille.
Schäfer kehrt dennoch versöhnt mit sich und seinem Sport aus Indien zurück. Die Ruhe und die Leichtigkeit sind zurück, auf sein Gefühl ist Verlass - er hat eine Medaille gewonnen. Nur im Kampf um die Zukunft des Weitsprungs fehlt ein Sieg. Noch. Denn das Gefühl, das ist bei Schäfer auch in diesem Fall positiv.
Quelle: ntv.de